Es ist ein ganz normaler Abend in einer ganz normalen Tanzschule am Niederrhein. An der Bar wird diskutiert, getrunken und gelacht. Über einen weißen Flachbildschirm flimmern Videos von Auftritten der letzten Monate. Das Programm ist bunt gemischt, von Kindertanz, Hip-Hop, Swing und Standard/Latein sind viele Tanzrichtungen vertreten. Im nächsten Spot betreten zwei Frauen in weiten schwarzen Hosen die Fläche und beginnen, Jive zu tanzen. Viele Gäste bleiben an diesem Video hängen, und die Neugier ist groß. „Melanie, wer sind denn die zwei da?“, wenden Sie sich an die Frau hinter der Bar. „Ach, das sind Marina und Ute, die amtierenden Europameisterinnen im Equalitytanzen. Sie waren neulich auf unserer Benefizparty für den Kinderschutzbund zu Gast“, entgegnet die Inhaberin.
„Hä, Equality?“ In den folgenden Gesprächen stellt sich schnell heraus, dass eigentlich keiner der Tanzschulbesucher schon mal davon gehört hat, dass es auch Kurse und Turniere für gleichgeschlechtliche Paare gibt. Es wird also Zeit, sich schlau zu machen.
Google wirft zunächst heraus, dass das englische Wort „equality“ Gleichstellung bedeutet. Laut QUEERBALLROOM, einer Plattform zur Förderung von Tanz und Toleranz, habe sich „Equality“ im Tanzsport sehr schnell als Begriff für alle Tanzpaare gleichen Geschlechtes etabliert. Damit „ist ausdrücklich nicht die sexuelle Orientierung der Tänzerinnen und Tänzer gemeint“, betonen Marina Hüls und Ute Graffenberger in einem Interview, das wir entspannt via Facebook führen. Sie sind seit Mitte 2016 ein Tanzpaar und haben sich auch über das soziale Netzwerk kennengelernt. Marina ist mit einer Frau verheiratet und war mit ihrer vorherigen Tanzpartnerin Nadine bereits drei Mal Deutsche Meisterin in den lateinamerikanischen Tänzen. Für diesen Erfolg ehrte die Stadt Köln das Team sogar mit der „Großen Sportplakette“.
Ute hingegen hat einen Freund und suchte nach einem Umzug von Münster nach Köln einen neuen Tanzpartner. Marina kommentierte ihren Facebook-Post spontan mit „könnte Dir eine führende Frau anbieten“. Kurz darauf kam die Reaktion: „Ich habe zwar noch nie Equality getanzt, aber versuchen könnte ich es ja mal“. Beim ersten Treffen stimmte die Chemie offenbar auf Anhieb und schon Ende 2016 belegten die beiden Platz eins bei ihrem Tanzturnierdebüt in Hannover.
Nur ein halbes Jahr später trat das ungewöhnliche Tanzpaar in Berlin bei den Equality-Europameisterschaften gegen 36 Frauenpaare aus 13 Ländern an und holte sich fast nebenbei den Titel „Europameister Frauen Latein“.
Auf die Frage, worin für Ute denn der Reiz liege, mit einer Frau zu tanzen, hat sie folgende Antwort parat: „Es ist mir völlig egal, ob ich mit einer Frau oder einem Mann tanze. Das Zwischenmenschliche und der Tanzstil müssen passen.
Mittlerweile hat Equalitytanzen für mich sehr an Reiz gewonnen, denn es gibt keine Schrittbegrenzung, und Führungswechsel sind erlaubt. Die leichtesten Grundschritte werden als führende Frau auf einmal höchst kompliziert, und ich fühle mich wie im Anfängerkurs der ersten Stunde.“
Für Marina war schnell klar, dass sie grundsätzlich eher führen will. Sie erklärt, dass aber so genannte Führungswechsel eine wichtige Besonderheit im Equalitytanzsport sind. Diese sportliche Herausforderung bedeutet, dass die Tanzpartner gleichberechtigt sind, beide führen und folgen können und diese Rollen im fließenden Wechsel vertanzen. „Wir unterscheiden nicht nach Männer- und Frauenschritten wie im traditionellen Paartanz“, ergänzt sie. „Ansonsten haben wir genauso viel Spaß an Bewegung zur Musik wie gemischte Tanzpaare.“
Was können sich zwei erfolgreiche Tänzerinnen, die in so kurzer Zeit so eine Karriere hingelegt haben, noch für die Zukunft wünschen? „Wir wünschen uns Gleichberechtigung, eine Gesellschaft frei von Vorurteilen und festgelegten Rollen und die Anerkennung von Sportvereinen und Tanzschulen, die Equalitypaaren derzeit noch die Aufnahme verweigern“, bekomme ich von beiden zurück.
Es sind ganz normale Wünsche nach einer ganz normalen Gesellschaft in einem ganz normalen Land.
Melanie Struve