»Hip Hop muss wertgeschätzt werden«

Mini-Tanzlexikon: Zeitgenössischer urbaner Tanz
Der Begriff umfasst sämtliche Tanzstile, die in den letzten 40 Jahren im städtischen Umfeld aufgekommen sind und sich dort (weiter-) entwickelt haben. Einen einzigen Tanzstil, der als DER urbane Tanz bezeichnet werden könnte, gibt es nicht. Heute wird der zeitgenössische urbane Tanz in immer mehr Tanzschulen auf dem Globus unterrichtet. Zu den bekanntesten Stilen zählen Hip Hop, Breakdance, Voguing, Popping, Locking oder House Dance.

Das zentrale Element im Breakdance, die älteste Form des urbanen Tanzes, ist der Kreis, „Cypher“, in dem Wettbewerbe, „Battles“, stattfinden. In den meisten Tanzschulen ist der Cypher nach wie vor Bestandteil des Unterrichts. Aus tanzpädagogischer Perspektive wird hierbei insbesondere die Persönlichkeitsbildung und –Entwicklung des Tanzenden gefordert und gefördert, denn das Eintreten in den Cypher und die darauf folgende tänzerische Selbstpräsentation schulen das Selbstbewusstsein und stärken das Zugehörigkeitsgefühl zur Peergroup, zur Crew.

Als wegweisend im Bereich des zeitgenössischen urbanen Tanzes gelten die Crews aus der Gründungsnation USA, ebenso jene aus Frankreich und Deutschland. Ernstzunehmende Konkurrenz kommt aus Südwest und von Fernost: Brasilien und mehr noch Korea gelten als die neuen Hotspots dieser jüngsten tänzerischen Bewegungsform.

Hip Hop-Kultur im Wandel der Zeit. Eine Spurensuche.

Seit seinem Entstehen in der New Yorker Bronx hat sich Hip Hop in den letzten 40 Jahren von einer Kultur der Subalternen – Menschen mit Migrationshintergrund, die eher aus bildungsfernen Milieus stammen – zu einem globalen Lifestyleprodukt mit nicht zu unterschätzenden Erwerbsaussichten gewandelt. Für viele ist Hip Hop mit seinen Verästelungen in Graffiti, Musik, Mode, Text und Tanz zu einer sicheren Einkommensquelle geworden. Bislang prosperiert besonders das Feld „Tanz“ – fast unangetastet von staatlichen Regulationen ebenso wie Hilfen. Die Weitergabe des urbanen, tänzerischen Wissens ist dabei gänzlich unsortiert. Das wird sich ändern: Tanzschulen arbeiten hart daran, ihre urbanen Ausbildungen von staatlicher Stelle anerkennen zu lassen, sie systematisieren, modularisieren, normieren. Zum Abschluss winken Zertifikate, Diplome, Zeugnisse. Ist das ein Widerspruch, da die Hip Hop-Kultur ja eher abseits offizieller, normativer Strukturen entstanden und gewachsen ist?

Kompetenz statt Qualifikation

Hip Hop „as such“ ist weniger bekannt für formale Strukturen, Standards oder Normen anhand derer sich Tänzer, MCs oder Graffiti-Sprayer orientieren würden. Wohl aber gilt damals wie heute ein klarer Wertekodex: Respekt, Disziplin, Beharrlichkeit und Übung, um nur ein Paar zu nennen. Entsprechend dieser Logik (und sicherlich auch bedingt durch einen mangelhaften Zugang zur Ressource Bildung) wurde erworbenes Wissen in informellen Kontexten untereinander weitergegeben und Kompetenzen eignete man sich durch Mut, Kreativität und Durchsetzungsvermögen an. So wurden Veranstaltungen aller Art ohne eine formelle Qualifikation zum „Eventmanager“ oder „Bookingagent“ auf den Weg gebracht, die Absage durch ein Plattenlabel bedeutete für viele Rapper die durchaus erfolgreiche Gründung eines eigenen Labels und diejenigen, die sich in ihrem späteren Leben als Grafikdesigner begreifen würden, haben ihr Fachwissen nicht selten als Sprayer in den Schächten der U-Bahn erworben. Breakdancer gaben ihr Wissen ohne Didaktik- oder Pädagogikprüfung an Schüler weiter. Sie leiteten ihre Stunden anhand der Prinzipien an, die sie auf der Straße gelernt hatten: Gleichheit, Loyalität, Verantwortungsgefühl. Angetrieben von einer starken Leistungsbereitschaft und einer guten Intuition, einem Gespür für Trends sowie unternehmerischem Geschick brachten es nicht wenige zu beachtlichem Wohlstand, frei nach dem amerikanischen Sprichwort, dass jeder Tellerwäscher zum Millionär werden kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet.

Bildung, Bildung, Bildung

Seither sind mindestens zehn Jahre vergangen und die Gegenwart stellt neue Anforderungen an die Akteure, nicht zuletzt aufgrund veränderter Bedarfslagen: der zeitgenössische urbane Tanz wächst und entwickelt sich weiter, immer mehr Tanzschulen bieten Kurse in den diversen Stilen an und immer mehr Lehrer bringen einer wachsenden Zahl von Schülern die Schrittfolgen und Kniffe dieser besonderen Art der Bewegung bei. Aber wer stattet sie mit den erforderlichen Kompetenzen aus und wo lernen sie, was der Kern der Hip Hop-Kultur ist, wenn kaum mehr auf den Straßen der Städte getanzt wird und sich die informellen Battles von damals zu urbanen Großevents von heute transformiert haben?

Hier besteht also Handlungsbedarf, um das enorme Ansehen, das sich der zeitgenössische urbane Tanz verdient gemacht hat, zu erhalten. Das sehen auch die Gründer und Tänzer der ersten Generation so. Diejenigen, die Hip Hop damals groß gemacht haben, übernehmen heute Verantwortung für die Nachkommenschaft und stellen damit ein weiteres Mal ihre außergewöhnlichen Kompetenzen und ihr Gespür für das richtige Timing (gelernt auf dem Dancefloor) unter Beweis.

Hip Hop braucht mehr Anerkennung

Der Gründer der Urban Dance Crew Flying Steps und Inhaber der dazugehörigen urbanen Tanzakademie in Berlin, Vartan Bassil, berichtet, wie schwer es geworden sei, gute Coaches in diesem Bereich zu finden. Die Intuition sei für viele Lehrer der innere Kompass in der Unterrichtsgestaltung, jedoch brauche es ein fundiertes tänzerisches Fachwissen, Kenntnisse in Anatomie und Didaktik sowie historisches Faktenwissen zur Hip Hop Kultur und ihres Wertesystems, ihrer Philosophie, um in diesem Bereich ein wirklich guter Lehrer zu sein. So schnell ändert sich das Blatt – hatten wir uns denn nicht gerade eben noch über Freiheit und Selbstverwirklichung außerhalb normativer Systeme ausgetauscht? Ja, sicherlich. Jedoch sei ein solides Qualifizierungssystem unabdingbar, stellt er fest.

Für diese wichtige Arbeit wünscht er sich mehr Aufmerksamkeit, denn die tänzerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sei – jenseits von allen Forderungen nach einer strukturierten Urban Dance Ausbildung häufig so viel mehr als nur Körperarbeit oder Tanzkurs. Oft geht es um innere Themen und nicht selten erleben Eltern wie Tanzlehrer ihre Schützlinge nach dem Unterricht wesentlich selbstbewusster und ausgeglichener. Das ist die soziale Arbeit, die der Hip Hop schon seit Dekaden leistet und die so wichtig ist.

Sie muss wertgeschätzt werden.

Von Eva Wildhardt