Line In – Der Musikkanal
von Johnny Schmidt-Brinkmann

Vor kurzem hat mich ein Tanzlehrerkollege angesprochen:“Johnny, ich habe ein ernstes Problem!” Also warf ich den Papierkrieg auf meinem Schreibtisch kurzerhand in den Papierkorb und wandte meine Aufmerksamkeit dem sorgenvollen Gesicht zu, das mich hilfesuchend anstarrte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, wie schlimm die Nachricht sein würde. “Hau raus, was gibt’s?”

Seine Antwort war wirklich schockierend: “Ich habe mir gerade das neue Album von Justin Bieber angehört und ich finde es total gut! Ich habe sogar einen Ohrwurm von einem Song, was soll ich tun?”

Ich war so verwirrt, dass ich fast auf den Schreibtisch gesabbert hätte, und glotzte ihn an wie ein Karpfen auf Standby.

“Justin Bieber, der kanadische Kinderstar, der Ex von Selena Gomez und so? Der, dessen Songs wir nichtmal mit Laborhandschuhen angefasst hätten?” – “Ja, genau der, hör Dir mal “What do you mean” an, coole Tropical-House-Nummer, könnte von Kygo sein!”

Ich begann zu ahnen, wie die Nummer ausgehen würde, denn schließlich ist die Haltbarkeit von Teeniestars durch den Alterungsprozess der Fans determiniert, weswegen alle am Umsatz beteiligten Menschen (Plattenfirmen, Management, Mama…) Angst vor dem Moment haben, an dem der Geldsegen von heute auf morgen vorbei ist.

Das ist keine Neuigkeit, aber trotzdem scheitern selbst erfolgreiche Acts regelmäßig daran, dass sie plötzlich nicht mehr nur für den gesamten Rest der Welt, sondern auch für ihre ehemaligen Fans uncool geworden sind. Oder erinnert sich noch jemand an die Bay City Rollers, die New Kids On The Block oder Tokio Hotel?

Manchen ist der Absprung hingegen tatsächlich gelungen, am künstlerischen Potential der einstigen Boygroup-Fragmente Robbie Williams (Take That) oder Justin Timberlake (N*Sync) zweifelt heute niemand mehr und auch Kylie Minogue wandelte sich gekonnt vom braven Teeniestar (“I should be so lucky”) zum Sexsymbol, wofür sie allerdings fast zehn Jahre brauchte. In dieser Zeit ist aus manch einem Teenie-Fan längst eine studierte Mama geworden, die sich plötzlich mit verzückter Retro-Freude altes und neues Material des einstigen Bravo-Stars anhört.

Neu bei Justin Bieber ist, dass es zwischen dem Vorgängeralbum und dem Neuling “Purpose” keine schöpferische Pause gegeben hat. Einige Songs wurden zwar mehrfach eingespielt, weil Herr Bieber mit den Ergebnissen nicht zufrieden gewesen ist, aber mit Hilfe des Produzenten Skrillex wurde das Album plötzlich auch ein Treffer jenseits der eigenen Fanbase. Dazu beigetragen hat insbesondere die dritte Single “Love yourself”, die eindeutig die Handschrift von Ed Sheeran trägt und in der West Coast Swing Szene ein beliebter Song geworden ist.

Übrigens war mein Kollege mit seiner plötzlich neu entdeckten Vorliebe nicht allein. Auch Radiostationen, die bislang so getan hatten, als gäbe es diesen Justin Bieber trotz seiner Charterfolge nicht, nahmen seine Songs ins Programm. Bei Modern Talking hätte es das nicht gegeben. Es sei denn, Dieter Bohlen hätte Thomas Anders durch Lemmy Kilmister (Motörhead) ersetzt, was die Welt zwar auch nicht wirklich gebraucht hätte, aber gehört hätten wir es gerne!

Auf der einen Seite hilft der “Vorfall” einem, die Scheuklappen der Cultural Correctness abzunehmen, denn wenn ein Song “gut” ist, sollte es schließlich egal sein, wer ihn vorträgt.

Auf der anderen Seite fürchte ich mich nun erst recht vor den Neuveröffentlichungen einiger weiterer Acts, die bislang teamübergreifend als geschmacksgebannt gelten. Ich höre schon:

“Hey, Cindy & Bert haben ein völlig krasses neues Album – Sido hat es produziert!”