Mythos Tanzmarathons

Bis dass der Tanz euch scheidet: In den Zwanzigerjahren wurde in den USA der Tanzmarathon populär. Aus absurden Spaßwettbewerben entwickelte sich eine umsatzstarke Industrie, die in der Weltwirtschaftskrise Hungrige, Verzweifelte und unseriöse Veranstalter anlockte – aus Romantik wurde Folter.

Weg, nur weg aus seinem Blickfeld! Nach 206 Stunden und 25 Minuten Dauertanz kollabiert Ollie Goss. Sie kann den Anblick ihres Partners nicht mehr ertragen. Sobald er sie anschaut, schreit sie hysterisch und drückt sein Gesicht zur Seite. Dann bricht sie zusammen, mitten auf der Tanzfläche.
Nach fast zehn Tagen halluziniert auch Jack Mortimer, Tänzer mit der Nummer 42. Er ist überzeugt, von einer Diebesbande ausgeraubt worden zu sein, stürmt wütend aus dem Tanzsaal, auf der Jagd nach Verbrechern, die nicht existieren.
Zu der Zeit beginnt Della Kennie vom Paar mit der Nummer 92 imaginäre Blumen von ihren Schuhspitzen und phantasierten Rosensträuchern zu pflücken. Als eine schrille Bootsirene eine der offiziellen Kurzpausen abrupt beendet und der Dauertanz weitergehen soll, hat sie keine Kraft mehr, sich erneut aufs Parkett zu schleppen.
Damit war auch sie aus dem spektakulären Event ausgeschieden, das am 10. Juni 1928 im New Yorker Madison Square Garden begonnen hatte: 132 Paare begaben sich an diesem Tag zu den Klängen der Liebesschnulze „Sweet Sue, I Love You“ auf eine große Tanzfläche. Sie alle wussten: Dieses erste Lied wird noch Spaß machen. Doch bald werden die Muskeln übersäuern. Die Füße anschwellen. Die Schmerzen kommen.

Skandale, Tränen, Blut

Denn die 132 Paare tanzten nicht aus Vergnügen, sondern kämpften nach archaischen Spielregeln um ein Preisgeld von 5000 Dollar. Wer es gewinnen wollte, durfte nicht aufhören zu tanzen. Womöglich für Wochen oder Monate, eine 15-minütige Pause pro Stunde für Essen, Kurzschlaf und Massagen ausgenommen.
Als „Dance Derby of the Century“ hatte der gewiefte Publizist und Promoter Milton Crandall diesen Tanzmarathon beworben und die Zeitungsmacher damit elektrisiert. Wochenlang berichteten die Medien detailliert über das Großereignis, das Menschen sprachlich auf die Ebene von Rennpferden setzte. Und das „Derby“ lieferte ihnen, wonach sie dürsteten: Helden und Gestrauchelte, Skandale, Tränen, Schweiß, Blut. Amerika ergötzte sich Jahrzehnte vor Geburt des Reality-TV an grell ausgeleuchteten und sorgsam orchestrierten menschlichen Dramen.
Der ursprüngliche Zweck eines romantischen Paartanzes war damit endgültig pervertiert, abgelöst von einer modernen Spielart römischer Gladiatorenkämpfe. Selbst das Publikum benahm sich zuweilen wie der Mob in einem alten Amphitheater: Unbeliebte Tänzer wurden gnadenlos niedergebrüllt und beworfen, Favoriten lautstark angefeuert und bei besonders gelungenen Einlagen regnete es zur Belohnung Münzen auf die Tanzfläche.

Echte Schmerzen und falsche Gefühle

Doch längst nicht alle Emotionsausbrüche waren dem Zufall oder Stress geschuldet. Geschickt hatte Veranstalter Crandall sichergestellt, dass sein „Dance Derby“ Schlagzeilen produzieren würde. So heuerte er professionelle Tänzer an, die er mit 1000 Dollar recht großzügig bezahlte. Die Profis unter der Schar an Laien sollten das Tanz-Niveau heben – und gelegentlich auch mal einen veritablen Schwächeanfall simulieren.

Tanzen bis zum Umfallen: Hoch das Bein und Augen auf

Crandall setzte zudem ganz auf Prominenz. So nahmen an seinem Tanz-Marathon nicht nur ein bekannter Langstreckenläufer teil, sondern auch ein als dekadent verrufener Baron, dessen mondäne Partnerin auf den schönen Namen „Bella Bella Insurtilla von Madrid“ hörte. Scheinbar zufällig tauchten auch immer wieder A- und B-Promis im Publikum auf. Im Idealfall benahmen sie sich daneben – wie etwa die Schauspielerin Texas Guinan, die die Tänzer mit einem derben „Hello suckers!“ begrüßte.
Emotionen, Skandälchen und ein als „real life“ getarnter Wettbewerb – Milton Crandall hatte die Zutaten gefunden, die bald einen regelrechten Boom des Tanzmarathons auslösen würden. Denn das „Dance Derby“ war trotz niedriger Kartenpreise ein großer finanzieller Erfolg – und wurde damit zur Blaupause für eine schon bald umsatzstarke Industrie, in der einmal Zehntausende Promoter, Moderatoren und Tanzrichter arbeiten würden.
Gerade in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise 1929, die Hunderttausende Amerikaner den Job kostete, florierte das Geschäft. Die Menschen waren in diesen harten Zeiten offenbar empfänglich für eine Unterhaltung, die den täglichen Existenzkampf spiegelte: Sozialdarwinismus auf dem Parkett. „Das Leben ist wie ein Marathon“, hieß eine Hymne, die auf den Wettbewerben gesungen wurde, „man muss die Nerven haben zu bleiben.“

Absurde Rekordjagd

Dabei stammte die absurde Idee des Dauertanzes noch aus Zeiten vor der Krise. Schon Anfang der zwanziger Jahre hatte es, zunächst in England und Frankreich, Marathon-Tanzwettbewerbe gegeben. Für die USA setzte Alma Cummings den ersten Weltrekord: Sie tanzte im März 1923 genau 27 Stunden ohne Pause – und verschliss dabei gleich mehrere Partner. Publikumswirksam posierte die 32-Jährige nach ihrem Triumph für die Fotografen mit ihren löchrigen Schuhsohlen.
Ihr Rekord hielt gerade mal sechs Tage, dann wurde er um 13 Stunden überboten. In atemberaubendem Tempo schossen nun neue Bestmarken in irrsinnige Höhen: 65 Stunden und 53 Minuten am 15. April, 90 Stunden, 10 Minuten vier Tage später. Auch dieser Weltrekord konnte schon Anfang Mai überboten werden: Der Texaner R. J. Newman tanzte fast 170 Stunden und hörte erst auf, als seine Ärzte ihn vehement dazu drängten.
Trotz dieser wahnwitzigen Leistungen lockten die Ausdauerwettbewerbe zunächst keine Massen an. Meist waren es Freunde und Verwandte, die ihren Helden zujubelten. Erst Ende der zwanziger Jahre entstand aus der einst halbprivaten, verrückten Rekordjagd die Keimzelle einer Industrie: Aus anfangs authentischen, mitunter aber stinklangweiligen Veranstaltungen wurden für die Massen durchgestylte Events, bei denen der Zuschauer nicht mehr zwischen echten und gespielten Tränen unterscheiden konnte.

Sex während der Kurzpause

Veranstalter bezahlten Bösewichte, die sich rüpelhaft gegenüber Publikumslieblingen benahmen, um die Zuschauer zum Kochen zu bringen. In Sonderwettbewerben mussten sich die Tänzer beim Singen, Sprinten oder Dauer-Lächeln messen. Boxkämpfe, Kabarett- und Varieté-Einlagen überbrückten die Längen – einige Wettbewerbe dauerten neun Monate. Manche Promoter gewährten flüchtigen Kriminellen Unterschlupf, die dann schlagzeilenträchtig festgenommen wurden. Andere setzten auf Herzschmerz und initiierten sogar Hochzeiten. Trotz einiger echter Liebesgeschichten gab es etliche Profis, die von Marathon zu Marathon zogen – und jedes Mal heirateten.
Der Voyeurismus war der Erfolgsgarant, lange vor „Big Brother“. Bis auf wenige Minuten, die die Tänzer auf der Toilette oder in der Dusche verbringen durften, konnte das Publikum sie immerfort beobachten. Beim halbkomatösen Minutenschlaf. Bei der Versorgung durch Ärzte und Masseure. Beim Versuch, sich mit Schlägen, Kniffen oder Kitzeln wachzuhalten. Einige Zuschauer steckten ihren Helden Telefonnummern und Geschenke zu. Manche hatten in den kurzen Pausen sogar noch Sex mit ihnen.

Tanzen, um zu essen

Gerade nach dem Börsencrash 1929 bot der Tanzmarathon also für das Publikum viel Unterhaltung für wenig Geld – und war für einige Tänzer ein Lichtblick in düsteren Zeiten. Einige Verzweifelte machten nur mit, um wenigstens ein paar Tage lang kostenlos essen zu können. Andere spekulierten auf den Geldpreis oder etwas Ruhm und den Beginn einer Filmkarriere.

Eine trügerische Hoffnung: Nur wenige schafften den Durchbruch ins Filmgeschäft. Das schnelle Geld lockte hingegen viele zwielichtige Unternehmer an, die etwa das Preisgeld behielten und dann untertauchten. Trotz eines eigenen Berufsverbandes mit speziellen Leitlinien wurde die Branche ihr schlechtes Image nicht los – besonders, weil es immer wieder Gerüchte über Menschen gab, die bis zum Tod tanzten. So berichtete 1934 die „American Social Hygiene Association“ von einem Mädchen, das zwar offiziell an Meningitis starb. Die behandelnden Ärzte hätten jedoch eine „Überanstrengung durch einen Tanzmarathon“ als Auslöser vermutet.
Die Veranstalter wiesen solche Vorwürfe energisch zurück. Während der Wettbewerbe gebe es medizinische Betreuung, die Tänzer bekämen bis zu sieben Mahlzeiten am Tag (die sie freilich um den Essenstisch tanzend einnehmen mussten). „Niemals hat ein Marathon unter richtigen Bedingungen den Teilnehmern geschadet“, behauptete der bekannte Veranstalter Hal J. Ross und beklagte sich bitter darüber, dass ein einziger belegter Todesfall die ganze Branche in Misskredit bringen würde.

Wettkämpfe ohne Sieger

Nicht nur wegen möglicher Gefahren polarisierten die Wettbewerbe. Kinobesitzer hatten Angst vor der Konkurrenz und schlossen ihre Häuser oft während eines Tanzmarathons. Gläubige Bürger befürchteten einen Sittenverfall und klagten gegen die Sondergenehmigungen, die die Behörden für die Events ausgestellt hatten. Viele Wettbewerbe mussten daher beendet werden, bevor ein Sieger feststand. Gut für den Veranstalter, schlecht für die Tänzer: das Preisgeld musste dann nicht ausgeschüttet werden.
Schon Mitte der dreißiger Jahre begann daher der Niedergang des Tanz-Marathons. Viele Zuschauer kamen nur einmal zu einem Wettbewerb. Sie waren entäuscht, dass kaum getanzt wurde – die Regeln sahen vor, dass nur die Beine ständig in Bewegung bleiben mussten. „Es ist wenig anregend“, lästerte ein Reporter, „ein extrem müdes, hübsches Mädchen in einem zerschlissenen Bademantel zu sehen, die Augen halb geschlossen, die schmerzenden Füße, die auf dem Boden zu kleben scheinen, in quälend langsamen Schritten nach sich ziehend.“
Und doch geriet der Tanz-Marathon auch nach dem Ende seiner kurzen Blüte nicht in Vergessenheit. Regisseur Sydney Pollack setzte der einstigen Modeerscheinung 1969 ein filmisches Denkmal. Der passende Titel: „Nur Pferden gibt man einen Gnadenschuss.“ Tänzern nicht.

Von Christoph Gunkel, Der Spiegel