»Unerhört! Der Wiener Walzer treibt den Damen die Schamesröte ins Gesicht!«

So oder so ähnlich hätten Zeitungen wohl getitelt, als dieser Tanz noch in den gesellschaftlichen Kinderschuhen steckte. Denn – für uns heute vermutlich kaum vorstellbar – zu Beginn des 19. Jahrhunderts war eine Berührung über die Hände hinaus beim Tanzen fast undenkbar. Die Etikette sah ein »offensives Werben« um die Tanzpartnerin – wie der Walzer teilweise beschrieben wurde – auf dem Parkett nicht vor. Abstand und Haltung dominierten bis dahin die Tanzgesellschaft. Der Wiener Walzer war anders als jeder Tanz, den man bisher kannte. Die Schrittfolge war schneller und lebhafter, es wurde sich gedreht und vor allem: Die Tanzpartner standen dicht beieinander, hielten einander bei mehr als nur den Händen. Ein Skandal. Beinahe kühn schwang sich dieser neue Tanz vom einfachen Bauerntanz des Mittelalters auf zu einem Tanz, der alle Gesellschaftsschichten durchdrang und irgendwann die großen Galas und Bälle dominierte.

Wie so oft setzte sich der Wiener Walzer vor allem dank der jüngeren Bevölkerung durch und wurde so über die Zeit hinweg salonfähig gemacht. So avancierte der Walzer vom verpönten und skandalösen Tanz hin zu einer glamourösen Erscheinung und ist aus dem heutigen Tanzunterricht für Standardtänze nicht mehr wegzudenken.

Ursprünglich bedeutete das Wort »walzen« so viel wie »auf Wanderschaft gehen« und wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Synonym für »sich drehen«. Und hierin liegt die Neuheit des Tanzes. Abgesehen von der nahezu unverschämten Manier, dem Tanzpartner auf wenige Schritte nah zu kommen. Für das Laienauge kaum zu sehen, wirkt der Walzer eher gediegen und elegant. In seinen fließenden Bewegungen ist er – richtig getanzt – in der Schrittfolge der schnellste Wettbewerbstanz.

Heutzutage erscheint der »Skandal im ¾-Takt« eher unverständlich. Der Walzer zählt für uns zu den Standardtänzen. Er ist jedem ein Begriff, auch wenn er ihn vielleicht nicht oder nicht allzu elegant tanzen kann. Und er durchdringt viele Ebenen des Alltags, sein Wirkungskreis beschränkt sich nicht nur auf den Wettbewerb oder die Räumlichkeiten einer Tanzschule. Er begegnet uns, wenn wir den Fernseher anschalten oder ins Kino gehen. Er wartet mit Klischees auf, dass viele den Tanzunterricht als etwas Spießiges empfinden und entkräftet diese Sichtweise oft mit spektakulären und atemberaubenden Tanzeinlagen.

Und vor allem die Tanzbegeisterung junger Leute zeigt, dass es wieder in Mode gekommen ist, das Tanzen zu erlernen. Sei es, um auf Familienfesten eine gute Figur auf der Tanzfläche zu machen, oder aus purer Tanz-Leidenschaft. Tanzen ist eine Universalsprache, die jeder erlernen kann und wofür es keine Worte braucht. Früher wurden Tanztees veranstaltet, um in einem angemessenen Rahmen Konversation zu betreiben und Kontakte zu knüpfen. Heute geht man mit der besten Freundin oder gemeinsam mit Klassenkameraden zum Tanzkurs.

Der Wiener Walzer geht mit der Zeit. Denn wer glaubt, dass sich ein Walzer nur zu klassischen Klängen tanzen lässt, der irrt. Zahllose weltbekannte Pop- & Rockhits aus den letzten Jahrzehnten, zu denen man mit dem Tanzpartner übers Parkett gleiten kann, sind im 3/4-Takt geschrieben. Darunter findet sich unter anderem auch »Nothing Else Matters« von Metallica. Im ersten Moment mag sich das kratzige Metal-Lied vielleicht nicht mit pompösen Ballroben in Verbindungen bringen lassen, aber es zeigt, dass so lange der Takt stimmt, jeder Tanz entsprechend auch zu moderner Musik getanzt werden kann.

Und so beweist der Walzer vor allem eines: Vielfalt. Er ist wandelbar und passt sich dem Zeitgeist an. Das 19. Jahrhundert und die damit verbundene antiquierte Etikette wurde hinter sich gelassen und der Walzer problemlos auch in der Moderne etabliert. Heute ist von der skandalösen Wurzel des Walzers nichts mehr geblieben. Vielmehr hat er einen gesellschaftlichen Umbruch zum Vorzeige-Standardtanz durchlebt. Jeder kann und darf Walzer tanzen, niemand wird hierbei schief oder gar als freizügig angesehen.

Nadja Wössner